Aurelia Merz (Österreiich) schreibt Kurzgeschichten und Gedichte, sie lebt und arbeitet in Wien.
Deutsch
Schneewittchen streikt
oder Das Ende der Märchen
Missmutig schleuderte Aschenputtel den Besen in eine Ecke der Küche. Erbsen und Linsen. Berge davon, und alle lagen in der Asche hinter dem Herd. Warum
nur mussten diese Erbsen ausgerechnet in der Asche liegen? Wohl nur, um den Namen des Mädchens - Aschenputtel - zu rechtfertigen. Sie musste dieses ganze Zeug jetzt wieder auseinander klauben
und, wenn alles gereinigt war, das Feuer im Herd anzünden und Wasser zum Kochen bringen. Keine einfache Sache bei diesem Tiefdruckwetter und einem schlecht funktionierenden Herd. Dann mussten die
Hülsenfrüchte stundenlang gekocht werden, wenn sie sich nicht noch mehr Ärger mit der bösen Stiefmutter und den stupiden Stiefschwestern einhandeln wollte. Mit einem Aufseufzen rief sie nach den
obligaten Vögeln, die ihr beim Körnersortieren helfen sollten, aber auch die ließen sich Zeit. Endlich landete doch eine Taube auf dem Fensterbrett. „Na endlich“ sagte Aschenputtel. „Aber
wo bleiben denn die anderen?“ „Ich weiß nicht, ob die heute kommen werden “ gurrte die Taube. „Da draußen gibt es so viel zu fressen, dass wir auf deine schwarzen Körner wirklich keine Lust mehr
haben.“ „Glaubst du, das war meine Idee - die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen? “ Die Taube antwortete nicht, und das Mädchen streckte mit einem unecht wirkenden Lächeln den Arm
aus. „Komm und setz dich auf meine Hand“. „Muss das sein?“ fragte die Taube. „Es gehört zum Image“, sagte Aschenputtel. Schließlich gab es unzählige Darstellungen in Märchenbüchern, auf
Kinderpuzzles und in Würfelbaukästen, wo genau diese Szene dargestellt wurde. Der Vogel setzte sich widerwillig auf ihren Finger und meinte dann,“ Ich hab heute wirklich keine Lust, Körner zu
picken“. „Ja glaubst du denn, dass ich das alles hier noch irgendwie lustig finde? Die viele Arbeit, den Abend mit dem obligaten Ball und diesem stinklangweiligen Prinzen, der mich dauernd nur
grinsend anglotzt. Mit dem kannst du über nichts reden, als höchstens über Pferde.“ „Du kannst ihm ja etwas über deine Pferde erzählen,“ schlug die Taube vor. Aschenputtel kicherte. „Was soll ich
ihm sagen? Dass sie in Wirklichkeit Mäuse sind und nicht einmal wiehern können?“ „Wenn dich das alles hier so ankotzt, warum machst du es dann nicht wie Schneewittchen - und
streikst?"
„Was soll heißen - Schneewittchen streikt?“ „Was das heißen soll? Sie weigert sich einfach, weiterhin Hausfrauenarbeit im Haus der sieben
Zwerge zu verrichten. Es ist ihr einfach zu viel geworden, einen Haushalt mit acht Personen zu versorgen - Kochen, Waschen, Putzen, Bügeln. Das alles ohne elektrische Haushaltsgeräte wie
Staubsauger, Waschmaschine oder Bügeleisen. Und dann zum Schluss noch ab in den Glassarg, in dem sie im Sommer vor Hitze fast umkommt, und im Winter in ihrem dünnen Kleidchen fast erfriert. Und
das alles nur, damit dieser Schönling sie findet und mitnimmt. Ich glaube, sie hat von ihrem Prinzen genauso genug, wie du von deinem. Sie wollte ihre Situation verändern, weniger Arbeit haben,
einmal eine Pause einlegen. Zuerst hat sie Antrag auf Urlaub und Kuraufenthalt gestellt. Das wurde von der zuständigen Behörde mit der Begründung abgelehnt, dass es sich bei ihr um zumutbare
Belastungen handle, während andere viel mehr durchzustehen hätten. Zum Beispiel das arme Mädchen mit den sieben Raben oder sieben Schwänen - was weiß denn ich, welches Märchen das ist - das
dauernd Hemden aus Brennnesseln stricken muss und schon ganz rote Hände voller Blasen hat. Schneewittchen hat sich dann an die Gewerkschaft gewandt. Aber die haben im Verlauf mehrerer
Gesprächsrunden mit Verlagshäusern und Fernsehanstalten nicht geschafft, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Und so hat sich Schneewittchen dazu entschlossen, in Streik zu
treten.“ „Aber das geht doch nicht “ meinte Aschenputtel. „Man kann doch nicht…“ „Aber natürlich kann man“, unterbrach sie die Taube. „Und all die Waldgeschöpfe, wie die niedlichen Häschen und
zahmen Rehlein, die ja dauernde Anwesenheitspflicht bei Schneewittchen haben, sind glücklich darüber, dass sie jetzt frei haben.“ „Aber streiken, in Zeiten wie diesen? Werden wir nicht alle
unsere Arbeitsplätze verlieren? Es gibt ohnehin kaum mehr Interesse an Märchen. Die Menschen wollen Fernsehkrimis, Comics, Computerspiele. Niemanden interessieren noch die Märchenbücher.“ „Und
genau da müsse man einhaken, sagt Schneewittchen.“ Die Taube gab sich jetzt ganz altklug. „Sie meint, die Menschen müssten wieder einsehen lernen, was sie an den Märchen haben, und das ginge nur,
wenn die Märchenfiguren für einige Zeit verschwinden.“ „Ob das klappen wird?“ wunderte sich Aschenputtel und fuhr nach einer kurzen Nachdenkpause fort. „Weißt du, ich habe mir schon oft überlegt,
ob sich die Arbeit überhaupt noch lohnt. Denn was bekommen wir Mädchen am Ende für all unsere Mühe? Meistens einen Prinzen! Und jetzt sag du mir, ob das noch ein Ziel ist, für das zu arbeiten es
sich lohnt. Die meisten Prinzen sind heute verwöhnte Schwächlinge, bedroht von Terroristen, Kommunisten, Faschisten, und allen anderen Gegner der Monarchie ein. Sie haben keine Macht mehr und
wenig Geld, und wir hübschen Mädchen dienen doch nur als Aufputz für den Palast, wir sollen keine eigenen Ideen und Träume haben und brav den Mund halten. Wenn ich mir das alles so überlege finde
ich, dass die Idee zu streiken eigentlich sehr gut ist. Flieg zu Schneewittchen und sag ihr, dass ich mitmache.“ „Bist du sicher?" fragte die Taube, nun doch ein wenig besorgt. „Nein, bin ich
nicht, ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung ist. Darum flieg schnell, bevor ich zu zweifeln beginne und es mir anders überlege“, sagte Aschenputtel, mit ungewohnter Härte in der
Stimme.
Die Taube ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie eilte zu Schneewittchen, das sich sehr über die Nachricht freute, von dort kehrte sie zurück zu Aschenputtel, das
inzwischen ein Streik-Manifest verfasst hatte, den dumm war ja dieses Mädchen nicht. Mit diesem Manifest im Schnabel flog die Taube kreuz und quer im Märchenland umher und sammelte
Zustimmungserklärungen von denen, die mit ihrer Situation ebenfalls nicht mehr zufrieden waren - und das waren fast alle. Das Manifest wurde kopiert, andere Vögel wurden gebeten zu helfen, und
sie eilten nun von den sieben Bergen zum Froschkönigsteich, von Hänsel und Gretels Hexenhaus zum Dornröschenschloss, vom gläsernen Berg zum Feuer des Rumpelstilzchens und weiter zum
sprechenden Fisch, der es leid war, dem überspannten Fischerweib unmäßige Wünsche zu erfüllen. Die Zugvögel bekamen bald mit, was sich da in Mitteleuropa abspielte, und Schwalben, Störche,
Flamingos und viele andere trugen die Nachricht in aller Herren Länder. Überall schien man auf die fliegenden Boten gewartet zu haben, in Italien, Skandinavien, Russland, aber auch im
arabischen Raum, in China, Indien, Amerika. Auf der ganzen Welt fühlten sich die Märchengestalten von der heutigen Zeit ausgeschlossen, in verstaubte Ecken zurückgedrängt, weil sich die
Menschheit neuen Heldenfiguren zugewandt hatte. Superheroes, die alles schaffen, für die Raum, Zeit, Ästhetik und Moral keine Bedeutung haben. Die sich in alles verwandeln können, sich aus jeder
unglaublichen Gefahrensituation in Sicherheit bringen, und die in jeder Fernsehepisode die Welt vor der totalen Vernichtung retten, wobei immer mit großem Getöse alles Mögliche explodiert und
vernichtet wird. Mit diesen neuen Entwicklungen konnten die alten Märchengestalten nicht mithalten, auch wenn manche von ihnen durchaus der Zauberei mächtig waren. Und so beteiligten sich
weltweit unzählig viele an der Arbeitsniederlegungsaktion - und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf.
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Es gab nur wenige Kinder, denen überhaupt auffiel, dass die Seiten in ihren Märchenbüchern zunehmend leerer wurden. Zuerst verschwanden einzelne Abschnitte der
Märchen. Dann ganze Geschichten auf einmal. „Schau Mutti“, rief die kleine Yvonne. „In meinem Märchenbuch stehen nur noch die Seitenzahlen, und sonst ist nichts mehr da. Die Bilder und die
Buchstaben sind weg.“ „Na mein Schatz“, sagte die Mama, und hob die Augen nur kurz von ihrem Laptop und dem spannenden Computerspiel.“Dann hast du ja jetzt viel Platz zum Zeichnen und Malen. Mach
ein schönes Bild für Mami, aber wenn du keine Lust dazu hast, dann dreh den Fernsehapparat auf. Dort findest du sicher etwas Lustiges“. „Ja danke Mami, das mache ich“, sagte Yvonne und machte es
sich mit einer Flasche Coca-Cola und einer Packung Kartoffelchips vor dem Fernsehapparat gemütlich. Aber nach ein paar Minuten rief sie: „Schau Mami, der Fernseher flimmert und es gibt kein
Bild“. Nun stand die Mutter doch auf, um nachzusehen. „Was sollte denn jetzt in diesem Programm laufen?“ „Ich weiß nicht - irgend ein alter Disney Film“. Die Mutter sah kurz in die
Programmzeitung. „Ach Cinderella. Das hast du doch ohnehin schon so oft gesehen. Schalt um in ein anderes Programm“. Das tat Yvonne, und im anderen Programm gab es gerade Ladybug. „Das ist
ohnehin viel besser!“ rief sie zufrieden, „wer will denn schon die alten Schinken anschauen?“ Die Mutter stimmte ihr zu und kehrte zu ihrem Laptop zurück.
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In einem Dorf saß ein kleiner Junge auf dem Lehmboden seiner Hütte. Hier gab es kein Fernsehen, keinen Computer, noch nicht einmal Elektrizität. Ein zerfleddertes
Buch lag auf seinen Knien und Tränen liefen über seine Wangen. Was war mit dem Buch geschehen? Wohin waren all die wunderschönen Bilder, die in dem Buch gewesen waren, verschwunden? Die Texte
hatte er nicht lesen können, doch der uniformierte Mann, der ihm das Buch überlassen und dabei mit Tränen in den Augen etwas über seinen Sohn gemurmelt hatte, las ihm daraus vor oder erzählte ihm
zumindest die zu den bunten Bildern gehörenden Geschichten. Das Buch war der größte Schatz des kleinen Jungen gewesen, hatte ihm eine Welt geschenkt, in die er sich flüchten konnte, wenn ihn
Angst und Hunger bedrückten. Nun war diese Welt verschwunden.
Aber - würden die Tränen eines einsamen kleinen Jungen ausreichen, um die Märchen in die Welt zurückzubringen??