Aurelia Merz (Österreich) schreibt Kurzgeschichten und Gedichte, sie lebt und arbeitet in Wien.
Deutsch
„GROßFELDSIEDLUNG“ - NEUAUFLAGE
"Hörst du das auch?" fragte die junge Ehefrau. Sie kam mit einem turbanartig um den Kopf geschlungenem Handtuch aus dem Bad. "Was soll ich hören?" Jeder hätte den ungehaltenen Unterton in der Stimme des Mannes gespürt, der mit einer Bierflasche in der Hand auf einem niedrigen Sofa vor dem Fernsehapparat lümmelte. Seine Füße lagen auf dem Couchtisch. Sein Blick verfolgte gebannt die Bewegungen der Fußballer auf dem Bildschirm. Direktübertragung des Weltcup-Finales. Seit Tagen hatte er sich auf das Spiel gefreut, und er würde sich nun durch nichts in der Welt vom Apparat fortlotsen lassen. Missbilligend schüttelte Lucy den Kopf. Warum er nur immer die Füße auf den Tisch legen musste? Man konnte auch auf andere Art bequem sitzen. "Ich höre schon seit Tagen ein seltsames Geräusch im Badezimmer", sagte sie. "Ein Brummen, oder Rattern; ich weiß nicht recht, wie ich es beschreiben soll." "Warum ist das jetzt so wichtig, wenn du es schon seit längerem hörst?" Er sah seine Frau nicht an, sondern ließ sich kein Detail der Fernsehübertragung entgehen. "Ich glaube, es ist stärker geworden. Es ist sicher heute stärker als sonst. Könntest du nicht einen Moment ins Bad kommen?" In ihrer Stimme war Unruhe zu hören. Obwohl er heftig hatte entgegnen wollen, dass sie ihn in Ruhe lassen solle, stellte er die Bierflasche weg, rappelte sich widerwillig hoch und ging in langsamem, seitlichem Krabbengang zur Tür des Badezimmers, wobei er den Blick nicht vom Bildschirm abwandte. An der Badezimmertür blieb er einen Moment stehen und sagte dann: "Ich höre überhaupt nichts". "Natürlich nicht, wenn du gar nicht darauf achtest. Du hörst doch nur den Sportreporter!" Mit zwei, drei schnellen Schritten war Lucy beim Gerät und schaltete den Ton zurück. "Versuch doch nur einen Moment lang zu horchen", flehte sie. Wieder wollte er aufbrausen, tat ihr aber dann den Gefallen, ins Bad hineinzugehen. Das Fußballspiel war zum Glück ohnehin in einer wenig aufregenden Phase. Er lauschte konzentriert, während Lucy gespannt sein Gesicht beobachtete, die Augenbrauen hochzog und den Kopf ein wenig vorstreckte, als wollte sie sagen: Nun gib schon zu, dass du es auch hörst. Er aber zuckte mit den Schultern und meinte kategorisch "Da ist absolut nichts. Ich weiß gar nicht, was du schon wieder hast". Er ging zum Fernsehapparat zurück und schaltete den Ton wieder ein. Ein Überraschungstor war gefallen, und ein Schwall heftiger Verwünschungen ergoss sich über Lucy, die mit hängendem Kopf in die Küche ging. Tränen liefen über ihre Wangen.
Am nächsten Vormittag traf Lucy im Hausflur zwei andere Hausbewohnerinnen, Migrantinnen wie sie selber. Manchmal wechselte sie ein paar Worte mit diesen Frauen, die sich auch noch nicht richtig wohl fühlten in dieser fremden Stadt, obwohl sie schon um einiges länger hier lebten als Lucy. Im Gegensatz zu ihnen war Lucy zwar mit einem Wiener verheiratet, aber das hatte ihr auch nicht geholfen, hier wirklich heimisch zu werden. Obwohl sie sich nach der gestrigen Reaktion ihres Mannes etwas albern vorkam fragte Lucy die beiden, ob sie in letzter Zeit irgendwelche seltsamen Geräusche im Haus gehört hätten. Eine sagte, sie hätte nichts gehört. Die zweite lachte. In der Wohnung neben ihrer eigenen gebe es immer undefinierbare Geräusche. Es würde oft gehämmert und offenbar würden häufig Möbel verschoben. Es wohne dort eines dieser Mädchen... nun, Sie wissen schon. Musik bis spät in die Nacht, Gegröle, und manchmal spitze Schreie und Gekreische. Das alles ginge aber schon monatelang so, und in letzter Zeit hätte sich eigentlich nichts an der Art der Geräusche verändert.
Langsam begann Lucy an ihrem Verstand zu zweifeln. Nur sie alleine hörte seltsame Dinge. Sie rief eine Freundin an, die sie noch aus ihrer Heimatstadt kannte, und die jetzt als Psychotherapeutin vor allem für ehemalige Landsleute tätig war. Die Frau hörte ihr geduldig zu, und es tat Lucy gut, nicht andauernd nach Worten suchen zu müssen, sondern in der eigenen Muttersprache über all ihre Zweifel und Ängste reden zu können. Das Ergebnis des Gesprächs war aber ernüchternd, denn die Freundin empfahl ihr, eine HNO-Praxis aufzusuchen. „Vielleicht stimmt etwas mit deinem Gehör nicht“, meinte sie freundlich. „Vielleicht ist es etwas in der Art von einem Tinnitus, das soll sehr lästig sein .... .und mach dir keine Sorgen, du klingst keineswegs verrückt. Es wird sich alles aufklären, da bin ich mir ganz sicher“. - Ein paar Tage später sah Lucy zufällig einen alten Science Fiction Film im Fernsehen: In einem Haus in der Wiener Großfeldsiedlung passierten seltsame Dinge, die aber außer einem einzigen Hausbewohner niemandem auffielen.. Zuletzt stellte sich heraus, dass dieses Haus in Wirklichkeit ein Raumschiff war, das sich dann eines Tages aus dem Erdboden löste und in ferne Welten verschwand. Mit diesem einen Hausbewohner, der hellhöriger als all die anderen gewesen war, fühlte sich Lucy auf seltsame Weise verbunden. „Na sicher, so wird’s wohl auch in unserem Haus sein“, sagte Lucys Mann kurz angebunden und schaltete den Sportkanal ein, als sie ihm von dem Film erzählte. Er murmelte noch irgendetwas, das wie “total verrückt“ klang. Von diesem Tag an schlief er nicht mehr im Ehebett, sondern auf dem Sofa im Wohnzimmer.
Lucy begann sich abzukapseln. Sie sprach mit niemandem mehr über das, was sie hörte, das, was sie dachte und fühlte. Immer mehr bekam sie den Eindruck, dass die anderen Menschen sie noch mehr als sonst ausgrenzten, dass alle – auch die anderen Immigranten – sie mit seltsamen Blicken bedachten, dass sie sich allem, was um sie her existierte, immer mehr entfremdete. In ihren unruhigen Nächten hatte sie seltsame Träume, an die sie sich am Morgen nicht mehr deutlich erinnern konnte – nur der Eindruck eines grünlichen Flimmerns war immer vor ihrem inneren Auge. Es kam der Moment, an dem sie deutlich erkannte, dass sie so nicht weiterleben wollte. Wenn wirklich alle anderen „normal“ waren, dann stimmte etwas nicht mit ihr, und sie musste herausfinden, was das war. Sie wollte sich einmal gründlich durchuntersuchen lassen und, wenn nötig, auch in psychogtherapeutische Behandlung begeben. Ihre Freundin verhalf ihr zu einem Termin in einer einschlägigen Klinik. In der Nacht vor diesem Termin schlief Lucy das erste Mal seit langer Zeit tief und fest. Am Morgen wachte sie wie aus tiefer Bewusstlosigkeit auf. Es war schon fast 8 Uhr, und die Wettervorhersage für diesen Tag war erfreulich gewesen. Mit etwas schwerem Kopf und steifen Gliedern, aber trotzdem recht gut gelaunt, stakste sie zum Fenster und schob die Vorhänge zurück, um mehr Licht ins Zimmer zu lassen. Der Himmel, der ihr entgegen strahlte, war aber nicht blau, sondern von seltsamer blasslila Farbe, und an diesem Himmel standen zwei rötliche Sonnen, statt der einen goldenen, die ihr vertaut war.