Andreas Dorschel (Germany / UK) was born in 1962 in Wiesbaden (Germany). In 1997 he moved to Britain, residing, until 2002, in Norwich (County Norfolk) where he taught as a Lecturer at the University of East Anglia. Since then he has lived in Austria. Dorschel’s writing conjoins literature and philosophy. In 2014, he was awarded the Caroline Schlegel Award. – Recent publications include: ‘Ein verschollen geglaubter Brief der Korinther an Paulus’, Merkur LXVII (2013), no. 12, pp. 1125–1134; ‘Ich bin so frei. Ein Gespräch’, grazkunst 01.2016, pp. 15–16; ‘Der Ursprung des Vorurteils. Nachrede zum Zauberberg’, Variations XXIV (2016), pp. 191–202; ‘Arkona. Gespräch über die Mythologie’, Athenäum XXVI (2016), pp. 161–174; ‘Phantomleiber der Abstraktion’, Zeno XXXVII (2017), pp. 151–166; ‘Unstern. Aus Franz Liszts hinterlassenen Papieren’, in Musik, Sinn und Unsinn. Festschrift anläßlich der Hommage an Alfred Brendel (Berlin: Konzerthaus Berlin, 2017), pp. 54–59 and ‘Venere d’Urbino. Florentiner Gespräch über die Schönheit’ in Anna Maniura / Matthias Deußer (eds.), Neue Literatur 2017/2018 (Frankfurt/M. – London – New York, NY: Frankfurter Verlagsgruppe, 2017), pp. 253–269.
Die Wahre Gemeinschaft. Ein Denkbild
Die Lichter der Häuser sah er schon von weitem. Als der Prophet Michael in Brokenwind ankam, verkündete er den Dörflern: „Von jetzt an soll dieses Dorf Die Wahre Gemeinschaft heißen.“ Den Dörflern gefiel es, denn der neue Name klang edler als der alte. Doch der Erleuchtete rief aus: „Ihr müsst euch diesen Namen erst verdienen. Sonst seid ihr seiner nicht würdig.“ Die Leute fragten ihn: „Wird es schwierig sein, ihn sich zu verdienen?“ Die Frage verschwindet von selbst, wenn ihr sie nicht stellt, dachte Michael. Aber er sprach: „Es wird leicht sein für euch, wenn ihr die Wahrheit glaubt. Die Wahrheit ist, dass ihr nicht jeder einzeln für sich in den Himmel zu kommen vermögt, wie ihr bisher glaubtet, sondern nur alle gemeinsam. Begeht dein Nachbar Unrecht, so wirst du nicht ins Paradies eingehen.“ Der Blick des Mahners schlug durch sie hindurch. Ersichtlich war dies nicht der Zeitpunkt für weitere Erkundigungen. Die Leute sagten: „Wir wollen es glauben um des edlen Namens willen.“ Sie boten Michael Wein an, um den feierlichen Anlass zu begehen, aber er lehnte es ab zu trinken.
Seitdem lebte man im Einklang miteinander in Brokenwind, das nun Die Wahre Gemeinschaft hieß. Jeder der Dörfler fühlte sich verantwortlich für jeden anderen. „Alle für einen, einer für alle“, skandierten die Kinder morgens in der Schule. Die Lehrer, die Eltern, ja zuweilen Michael, der Künder, selbst erklärten ihnen, was das bedeutete: „Wenn einer stiehlt, falsch schwört, betrügt, mordet oder den Herrn lästert, tragen die anderen die Schuld mit. Gott will nichts Halbes, und jeder ist Teil des Ganzen. Das Ganze aber ist nicht mehr als sein kleinster Teil. Wie könnte es anders sein? Wie dürfte es anders sein?“ Jeder, was immer er gerade tat, musste an die Gemeinschaft denken. So schien es gut. Und die Gemeinschaft musste an jeden denken, was immer er tat. Dies allerdings wurde manchen, je länger, desto stärker, unheimlich. Einige waren früher einmal in der großen Stadt gewesen. Mit verhohlenem Neid gedachten die Dörfler nun gelegentlich der Städter. Diese wohnten so nah bei einander und doch so unbehelligt. Der Nachbar fragte nicht nach dem Nachbarn. Gesellschaft eben, nicht Gemeinschaft.
Fremde, zwei Frauen, erwarben ein Anwesen in der Nähe des Weilers. Bislang hatten sie in der großen Stadt gewohnt. Deren Lärms und Getriebes waren sie müde geworden. Die beiden blieben für sich; selten nur kamen sie in die Siedlung. Da sie nicht zur Wahren Gemeinschaft zählten, brauchte man sich um sie nicht zu scheren. Doch eines Abends, den Kehricht vors Haus tragend, sah einer seinen Nachbarn zum Hof jener beiden Fremden schleichen. Erschreckt und um die paradiesische Bestimmung der Gemeinschaft besorgt, meldete er den Vorfall dem Dorfältesten. Von Stund an begannen alle Dörfler den Verdächtigen zu beschatten. Der Dorfälteste hatte Ermahnungen an die Türen nageln lassen: Ein jeder Dorfbewohner möge sich seiner Verantwortung bewusst sein. Für die Gemeinschaft. Die wahre.
Alle suchten ihre Ohren zu spitzen; alle mühten sich, die Augen offen zu halten; kaum einer schlief mehr des Nachts. Indes waren manche, die Guten, eher vigilant als andere, und so gerieten auch die weniger Wachsamen unter den Dörflern in Verdacht. Männer, Frauen, Kinder fingen an, jeden anderen zu bespitzeln. Jeden außer den Propheten, der mitten unter ihnen hauste und es sich wohl ergehen ließ. Er war ja selbst die Wahrheit, und der Wahrheit ist nicht zu misstrauen. Sonst aber ließ sich viel entdecken, nachdem einmal Argwohn aufgeflackert war. Eine holte mehr Reisig aus dem Wald, als ihr zustand. Ein anderer ließ etwas mehr Wasser, als vereinbart war, auf seinen Acker fließen. Früher hätte man ein Auge zugedrückt oder gar zwei; doch nun stand die Seligkeit aller auf dem Spiel. „Alle oder keiner, im Namen Gottes.“ Mit dem Argwohn regte sich Angst. Und mit der Angst regte sich Hass. Man spürte eine auf, die schwer gefrevelt haben sollte. Sie zu töten genügte nicht. Um die Schuld von der Erde zu tilgen, fackelten die Guten, grimmig begeistert, das ganze Dorf ab. Viele kamen in Rauch und Feuer um. Ein hölzernes Schild, am Rande eingepflockt, verbrannte nicht. Auf ihm war zu lesen: Die Wahre Gemeinschaft.
Rechtzeitig hatte Michael für seine Sicherheit gesorgt. Er war in die große Stadt gezogen und wurde an deren berühmter Universität Professor für Sozialphilosophie. Man schätzte ihn allgemein als Kritiker des modernen Individualismus. Wie Rauch, pflegte er zu sagen, verflüchtigt sich der Einzelne ins Nichts; allein die Gemeinschaft, verwurzelt im Boden, bleibt. Pries man ihn seiner Tiefe wegen, so antwortete er bescheiden: Ich bin, was meine Erfahrungen aus mir gemacht haben. Vom Himmel sprach er jetzt nicht mehr. Als geachteter Wissenschaftler, der er nun war, fand er andere Worte dafür.
English
The True Community: A Philosophical Vignette
The lights of the homes he could see from afar. When the prophet Michael arrived at the thorp of Brokenwind, he told the villagers: “Henceforth, this place shall be called: The True Community.” The villagers liked the idea; for the new name sounded nobler than the old one. But the holy man spoke to them: “You will have to earn that name first. Otherwise you do not deserve it.” The people asked him: “Will it be hard to earn?” And Michael said: “It will be easy for you if only you endorse the truth.” “What is the truth?”, they wondered. The question will disappear if you do not raise it, he thought. But he said: “The truth is: You cannot be accepted into Heaven each on your own, as you have believed so far, but only all of you together. If your neighbour does wrong, you will not enter Paradise.” His gaze cut through them. This, clearly, was not the moment for further inquiry. The villagers responded: “We shall believe it for the sake of that noble name.” They offered wine to Michael, to celebrate the occasion, but he refused to drink.
Since then they lived in harmony with each other in Brokenwind, now called The True Community. Each villager felt responsible for every other one. “All for one and one for all”, the children chanted at school each morning. The teachers, the parents, sometimes even Michael, the prophet himself, explained to them what it meant: “If one of us steals, commits perjury, cheats, kills or blasphemes, all the others are found guilty, too. The Lord does not want half measures, and each of you is part of the whole. The whole, however, is no better than its smallest part. How could it be otherwise? How should it be otherwise?” Each, in all their dealings, now had to think of the entire community. That seemed right. And the community had to think of each, in each and every act. The longer this went on, the more eerie some of the villagers felt such benign superintendence to be. A couple of them had once visited the big city. With concealed envy they thought of city life, as they had observed it then. People there dwelt so close together, yet were left unchecked. Neighbour did not ask for neighbour. Society, indeed, a far cry from community.
Strangers, two women, bought a home with a piece of land near the hamlet. They had lived in the big city so far, but had grown tired of the hustle and bustle there. In the countryside, they remained by themselves. Rarely were they spotted in the village. As they did not belong to The True Community, its members did not have to bother about them. One evening, however, a villager living in a marginal alley observed his neighbour sneaking to the farm of the strangers. Shocked at first, then worried about the future salvation of all, he reported the incident to the village elder. From that day on, villagers started to police the suspect. On each and every door, an admonition was nailed that all villagers should be aware of their responsibility for the entire community. The true one.
Everybody tried to prick up their ears; everybody strove to keep their eyes open; they could hardly sleep at night. Some, the good ones, were more alert than others, though. The less vigilant among the villagers came under suspicion themselves. Men, women, children began to spy upon the other. Except, of course, upon the prophet who lived amongst them and fared well. He, for sure, was Truth itself. And who would be so deranged to distrust Truth? Otherwise, however, a host of foul dealings got revealed once wariness had set in and spread. One villager took home some more brushwood than was due to her. Another one funnelled to his field a bit more water than had been agreed. One would have turned earlier a blind eye or even two at such minor matters. Yet nowadays eternal bliss was at stake. “All or none, in the name of God.” Suspicion brought along fear. Fear brought along hatred. The villagers identified one among themselves who, somehow, had sinned blatantly. To kill her was not enough. Only when the good ones had burned down the entire settlement, purifying the soil from guilt, they were spitefully gratified. Many suffocated by smoke or died in the flames. A wooden signboard, just outside the former village, was not destroyed by the fire. Passersby read on it: The True Community.
Michael had escaped to safety in time. In the big city he moved on to, its prestigious university appointed him Chair of Social Philosophy. He became esteemed as a profound critic of modern individualism. Like smoke, he used to say, the individual billows upward into nothing, while the community lasts, rooted in soil. When praised for his deep insight, he replied modestly: I am what my experience has made of me. Of Heaven, he did not speak any more. Now a distinguished scholar, he found other words for it.