Peter Paul Wiplinger (Österreich), Schriftsteller und künstlerischer Fotograf. Geboren 1939 in Haslach, Oberösterreich. Lebt seit 1960 in Wien. Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik, Philosophie. Vorwiegend Lyriker. Seine Gedichte wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und als Gedichtbände publiziert. Bisher 47 Buchpublikationen, zuletzt: „Tagtraumnotizen“ (2016) und „Schachteltexte“ (2017). - Weitere Informationen: www.wiplinger.eu

 

 Deutsch

 

Die Zeit liegt im Niemandsland

 

 

Gedanken zu Nahid Bagheri-Goldschmied

 

 

 

Mein Herz ist / zwischen zwei Dächern und zwei Himmeln, / ein gefangener Vogel.

 

 

 

So lautet der Vers eines Gedichtes der persischen Lyrikerin, Schriftstellerin und Publizistin Nahid Bagheri-Goldschmied, die nach Vertreibung und Flucht aus ihrer Heimatstadt Teheran seit 1980 in Österreich im Exil lebt. Emigration war die einzige Möglichkeit, um sich vor willkürlicher aber systematischer Verfolgung, Verhaftung, Kerker, Folter und möglicherweise dem Tod zu retten; dem geliebten Heimatland zu entfliehen, das zur Galgenrichtstätte einer alles unterdrückenden Gottesstaatsdiktatur verkommen ist. Flucht als einzig möglicher Weg zur Freiheit. Flucht in ein Niemandsland, in das Ausgesetztsein in der Fremde, in die Einzelhaft wie in einem luftleeren Raum, ohne Boden unter den Füßen. Flucht und Emigration als ein Weggehen, ein Weggehen in ein fremdes Land, das nur ein Aufenthaltsort, aber niemals (zweite) Heimat werden kann. Ein Leben im Ausgesetztsein zwischen Himmel und Erde, als im Hin- und Hergerissensein zwischen zwei Welten, ja sogar zwischen zwei Himmeln; ein gefangener Vogel, der nur einen neuen Käfig, aber keine zweite Heimat als Ersatz für die erste, die eigentliche, die aufgegebene, die verlorene Heimat gefunden hat. Seither, das heißt: lebenslang, ein Leben in der Fremde, in der Unbehaustheit, auch in der des eigenen Ichs, des eigenen Seins.

 

 

 

In ihrem Roman „Chawar“, 2009 von der Theodor Kramer-Gesellschaft herausgegeben, zeichnet Nahid Bagheri-Golschmied in der Geschichte des Mädchens Chawar ihr Leben und Vorleben in ihrer Heimatstadt Teheran nach. Sie berichtet vom Aufwachsen in einer streng patriarchalisch geprägten Großfamilie und den herrschenden, ja alles beherrschenden Traditionsgesetzen als Lebensgesetzen in jener Zeit vor der islamischen Revolution, in der Zeit des diktatorischen Reza Pahlavi-Schah-Regimes, in dem ebenso Willkür, Unterdrückung, Gewalt samt Folter und Mord geherrscht haben wie später und bis heute unter Chamene’i und seinem Mullah-Regime samt ihren Revolutionswächtern in der „Islamischen Republik Iran“. Die einen Verbrechen am eigenen Volk, an den anders Denkenden Freiheit-Suchenden und nach ihren Freiheitsvorstellungen Handelnden geschahen unter dem Schah-Regime als Verteidigung der Staatsdiktatur, und die späteren geschahen und geschenen noch immer im Namen Gottes („Alahu Akbar!“) und des Islams, der „Islamischen Republik“ Iran. Aber alle diese Staatsverbrechen, die ohne die vielen Helfershelfer der Savag oder der Glaubenswächter gar nicht durchführbar wären, sind ungeheure Verbrechen gegen das eigene Volk, gegen die Menschlichkeit; sie sind systematische grausame Willkürakte gegen die Freiheit. Für die Opfer macht das keinen Unterschied, ob sie unter diesem oder jenem Regime gequält, gefoltert, im Morgengrauen erhängt oder erschossen werden. Und die Welt, die UNO, die sogenannte zivilisierte Staatengemeinschaft und deren Repräsentanten schauen nicht nur untätig zu, sondern schüttelt den Verfolgern und Mördern freundlich lächelnd die Hände. Man macht gute Geschäfte mit ihnen, kauft ihr Öl, hofiert sie und erklärt sie zu kultivierten Partnern der „Freien Welt“; jedenfalls dann, wenn es um den eigenen Profit geht; da zählen dann die Menschenrechte nichts mehr.

 

 

 

Aus einer solchen Welt der Willkür und Gewalt, der Unterdrückung aller Freiheits- und Menschenrechte, vor allem auch der Rechte der Frauen, in der Verfolgung, Folterungen und tausendfache Ermordungen völlig unschuldiger Menschen an der Tagesordnung sind, flieht die persische Intellektuelle und Schriftstellerin Nahid Bagheri-Goldschmied; sie geht durch Emigration ins Exil; in ein Land, in dem zwar nicht mehr ihr Leben bedroht wird, in dem sie aber auch an Grenzen stößt, an Grenzen der Ausgrenzung, durch ihr Anderssein. Sie findet sich wieder in einem Land, das nicht das ihre ist, nie das ihre sein wird, das keine Heimat für sie ist, nie Heimat werden kann. Ihr Lebensgefühl, ihre Lebensposition drückt sie sehr klar im folgenden Vers eines ihrer Gedichte aus, in dem es heißt: „Die Brücke zur Heimat / hinter mir abgerissen, vor die Wahl gestellt / zwischen Stillhalten und Nichtsein. - am Rand des neuen Landes / kralle ich mich fest.“ und „Im Ödland dieser Einsamkeit habe ich mich/ bis an die Grenze der Blindheit geweint...“. Ein hoher Preis für die Freiheit; für die Freiheit, anders, nämlich selbstbestimmt, leben zu dürfen; zu leben „im Haus, in dem ich unwillkommener Gast bin“. So lebt die Dichterin Nahid Bagheri-Goldschmied nun seit mehr als 35 Jahren in unserem Heimatland Österreich. Und ihre Gedichte, ihre Literatur legen Zeugnis ab von diesem - nicht gerade glücklichen und erfüllten - Leben mitten unter uns. Da stellt sich die Frage: Wie ist unser Verhältnis, wie ist unsere Beziehung zu ihr? Ist sie „eine von uns“ oder (auch) nur „eine mit uns“? Gibt es eine Gemmeinschaft mit ihr? Haben wir sie wirklich aufgenommen als eine Zu-uns-Gehörende? Und wer ist dieses „Wir“? Vielleicht doch nur die Freunde, die Kollegenschaft. Aber rundherum ist doch mehr an Umgebung, an Umwelt. Wie ist ihr Umweltgefühl, ihr Selbst(wert)gefühl in dem Land, in dem sie seit fast 40 Jahren lebt? Wiederum gibt ein protokollarischer Satz, eine Verszeile aus einem ihrer Gedichte darüber Auskunft, in der erschütternden Feststellung: „Jeden Sonntag legen meine Hände das Nachthemd / morgens wie ein Totenhemd aufs Bett, um abends wieder hineinzuschlüpfen. Jeden Sonntag ist mir, / als habe ich es gar nicht abgelegt. - Der Friedhof meines Herzens / ist großzügig gegossen jeden Sonntag.“ Einsamkeit, Sonntagseinsamkeit; inmitten in der Großstadt. Manche kennen das: diese Form des Alleinseins, des Verlassenseins, der Einsamkeit, des Ichseins. Nein, Glücksmomente sind das sicherlich nicht.

 

 

 

Die Zeit schreitet fort. Das Älterwerden. Das Bewußtwerden der eigenen Endlichkeit, mit zunehmenden Alter; mit abnehmender Kraft, die vom Leben im Exil schneller aufgebraucht, wovon man schneller ausgezehrt wird. Dieser Bereich kommt zum Leben im Exil nun noch hinzu: dieses immer stärker werdende Gefühl vom Bewußtsein um die eigene Endlichkeit, um die schon vorgerückte Zeit. „In den Glocken schwingt der Tod / im Sekundenzeiger stockt die Zeit.“ Plötzlich und schon wieder steht eine Verszeile als Markierung am Lebensweg vor einem da, als dunkle, unerbitterliche Bedrohung, als Ausdruck des Wissens um das noch einmal Weggehen-Müssen in ein anderes Land. Dem steht jetzt noch ein anderes intensives Lebensgefühl und Wissen um sich selbst entgegen, das einhüllt und beschützt, das Hoffung gibt, auch auf „die gestundete Zeit“ (Ingeborg Bachmann); das  von Nahid im folgenden Vers ausgedrückt wird, der da lautet: „Ich bin so übervoll  von Liebe / und sehnender Zuversicht - ich verliere mich im Atem des Lebens.“

 

 

 

Vielleicht ist es die Liebe, die uns tröstet, die uns rettet; auch wenn sie vergänglich ist, ist sie doch bisweilen und für eine Weile ein Zufluchtsort, ja sogar ein Rettungsort, wenn wir unterzugehen drohen. „Die Liebe rettet dich - oder auch nicht; / das weißt du schon längst“ heißt es in einem meiner Spätgedichte. Aber wann kommt diese Liebe: wirklich dann, wenn man sie am nötigsten braucht? Manchmal kommt sie auch nie. Oder der geliebte Mensch verläßt uns, nein, nicht einfach so, sondern durch sein Sterben, durch seinen Tod, durch sein Weggehen in ein anderes Land; in ein Niemandsland. So viele unbeantwortete und auch unbeantwortbare Fragen! Und da die Gewißheit: Auch wir Heimatbürger sind immer auch zugleich in unserer Heimat-Behütung ausgesetzt dem eigenen Ich als einem uns fremden Land. Und aus dem können wir nicht emigrieren, nicht ins Exil gehen, in dem müssen wir lebenslang verbleiben.

 

 

 

Auch diese Lebensdimension betrifft die Dichterin Nahid Bagheri-Goldschmied. Ihr Wissen darum blitzt in ihren Gedichten, in ihrer Literatur auf, prägt sie. „Die Zeit liegt im Niemandsland“ - so ein Vers von ihr; ein Schlüssel zu ihrer Literatur und zu ihr selbst. Und weil für die Dichterin Nahid Bagheri-Goldschmied alles so war und ist wie es war und ist, rafft sie sich auf zu einem Appell an die Menschheit; ein Appell, der vielleicht eine Besserung der Menschheit und des Lebens, eine Befreiung von den das Leben einengenden Kräften und zerstörerischen Machenschaften der Menschheit bringen könnte, indem sie aus ihrem Ich-Gefängnis hinausschreit: „Öffnet die Türen und Fenster der Welt!“ Und das ist keine Floskel, sondern ein Befreiungsruf, den wir ernst nehmen sollten, wenn uns am Menschen und an dieser Welt noch irgend etwas liegt.