Helga Neumayer (Österreich) (Dr. phil.) ist Kulturanthropologin, Autorin und mehrsprachige Radioredakteurin (www.noso.at). Am Jugendcollege Wien unterrichtet sie Jugendliche aus Afrika, Asien und Osteuropa in den Fächern Deutsch, Kreatives Schreiben und Medienkunde. Sie ist Mitglied bei PEN-Österreich und lebt in Wien und Kritzendorf a/d Donau (NÖ).
Deutsch
1.
Vor uns
Ein grünes Tal,
Angezuckert
Vom ersten Schnee,
Freude,
Spur des Winters,
ein kurzer Tag, eine lange Nacht.
Einkehr.
2.
Eine aramäische, eine amharische, eine persische,
Eine arabische, eine kurdische,
eine menschliche
Zunge.
Ihre Spur verflüchtigt sich.
In der Nacht
In der Wüste
Im Meer
Im Tal.
Wer
Wird ihre Geschichte erzählen?
3.
War sie groß?
War sie klein?
Sang sie einen Säugling in den Schlaf?
War sie zart in der Umarmung?
Beleidigte sie kleine Geschwister?
Oder war alles nur Scherz?
Wo
Lag ihr gelobtes Land?
4.
Und nun
Ist die Herbergssuche
Zu Ende.
Das Tal liegt still
Die Zungen erstarren
Am kalten Geländer
Am Zaun.
5.
Ein Ohr, ein Hasenlöffel,
Ein Eishauch, eine hängende Zunge.
Hier ein Grashalm, ein Samen, ein Korn,
Ein Herz voller Hoffnung,
Ein Lied auf der Zunge.
Und da,
ein Reif voller Mißtrau´n,
Nebel um´s Herz, um die Seele,
eine Zunge, so starr,
dass selbst Nektar gefriert:
Sind die Halme des Tals tatsächlich gezählt?
Von wem?
6.
Gerade noch schwimmend
Im seligen Leib
Kam jede von uns zur Welt
Durch ein Weib
Eins, das beschäftigt
Zwischen Zäunen
Doch Zeit fand zu geben
Die Worte.
7.
Egal ob im Kalten, im Sandsturm,
im Haus,
Die Mutterzunge kam zu uns.
Und schon
Mussten wir sie verbiegen.
8.
Die eine
Hatte die Zunge einwärts gerollt,
der ander´n
baute man
einen Sarg.
Und die da, siehst du,
ließ sie hängen
im Sand, im Meer,
in der Einzelhaft, in der Einsamkeit,
in einer zerstückelten Welt.
9.
Die Zungen von Babel wandern
Dem Lachs gleich
Flussaufwärts.
Und zwischen Euphrat und Tigris
Sangen vereinte Zungen
Einen vielstimmigen Chor
Im Takt
Zu Darbuka und Oud
Doch der Teufel schnitt gnadenlos ab
Ein Zünglein
An der Waage.
10.
So wenig
Hätte gereicht
Für den Frieden
Harmonisch und polyphon.
Doch schenkte er uns
Faschismus und Kugeln.
Und dunkle Dschinns
Fraßen die Zungen
Von Wiegenliedern und Chören.
Und Heerführer tönten aus blechernen Mäulern
„Richtet die Gräber
Für Eure Zungen!“
11.
Und so liefen die Menschen
-Dem Lachs gleich- flussaufwärts
Und war eine Schnelle zu stark
So bissen sie
Die Zähne zusammen.
Doch manchen
Schmeckte das Salzwasser
Gar sehr
12.
Und sie leckten den Meeresgrund,
Dschinnns sammelten dort
Ihr Geheimnis.
Und es schrumpfte das Grüppchen der Zungen.
Und war ein Wagen zu dicht,
So schnappten sie nach der gezählten Luft,
-Geheimnisse kennt der Teufel-
Und wieder schrumpfte das Grüppchen der Zungen.
Und war ein Zaun zu hoch,
so sprangen sie hoch
Und Dschinns sprangen mit
Und hielten Geheimnisse fest.
Und wieder schrumpfte das Grüppchen der Zungen.
13.
Und nun
Steh´n wir hier,
Im grünen Tal,
Vor dem Birnbaum,
einst blühend, dann Mutter der süßen Frucht,
Ursprung vom Zauber des Mosts,
Geteilt für durstige Zungen der Welt.
Hier helles Braun
Und dort
Braunes Schwarz.
14.
Am Schachbrett des Lebens
Warst du
Gestern noch Königin
Und heute schon
Ruhst du
Neben dem Bauern,
Abseits vom Feld.
15.
Süß ist
Der Klang der Ney
Am Fluss.
Im Grünen Tal.
Eine Froschzunge
Erhascht sich
Eine Fliege
Im Sprung.
Sie hinterlässt
Ein flüchtige Welle.
Aus: Macht Kunst. Katalog zur Ausstellung. Diözese St. Pölten: 2016