Anna Mwangi (Ungarn/ Österreich) ist einer österreichischen Autorin mit ungarischen Wurzeln. Für ihre Roman „Die Kinder des Genossen Rakosi“ erhielt sie das Literaturpreis beim Exil Verlag. Sie veröffentlicht zahlreiche  Kurzgeschichte und Zeitungartikel in Österreich und Ungarn. Sie wohnt in Wien

 Deutsch

 

 

Matura

 

Die Tür nach oben

 

 

 

Das Zimmer strahlte Wissen und Macht aus. Versunken im Polstersessel fühlte sich Erwin klein und schäbig, obwohl er einen neuen, teueren Anzug trug, den er nur für dieses Treffen mit dem Direktor der HTL gekauft hatte. Eingeschüchtert sah er sich im Zimmer, um ängstlich, wartend, was der Direktor ihm zu sagen hatte

 

Doch was dann kam, traf Erwin wie ein Schlag in die Magengrube: „Ich muss Ihnen eine unerfreuliche Mitteilung machen. Ihr Sohn ist seit zwei Monaten nicht mehr in der Schule erschienen.“

 

Das ist unmöglich!“ rief Erwin. „Er geht jeden Tag pünktlich aus dem Haus!“

 

Kommt aber in der Schule nicht an! Er hat zwar einige Krankmeldungen geschickt. Aber man hat ihn während der Unterrichtszeit auf der Donauinsel beim Fußballspielen gesehen!“

 

Erwin rang nach Luft: „Das kann nicht sein, Herr Direktor. Das ist sicher ein Missverständnis.“

 

Der Direktor seufzte und nahm das Klassenbuch aus dem Regal. „Hier steht es Schwarz auf Weiß. Christian Knecht ist seit genau zwei Monaten kein einziges Mal in der Schule gewesen. Wenn es so weiter geht, schafft er das Schuljahr nicht. Er steht in zwölf Gegenständen auf „Nicht Genügend“. Das Beste wäre für ihn, Sie melden ihn überhaupt ab und er macht irgendeine Lehre.“

 

Nein, er muss die technische Matura machen und Ingenieur werden, das ist beschlossene Sache!“, rief Erwin.

 

Christian ist intelligent und würde es schaffen, wenn er wollte. Doch offensichtlich will er nicht!“, meinte der Direktor.

 

Mit letzter Kraft sprang Erwin aus dem Polstersessel. „Herr Direktor, ich werde dafür sorgen, dass mein Sohn das Schuljahr schafft. Ob er will oder nicht, er wird bei Ihnen die Matura machen!“

 

Der Direktor reichte Erwin die Hand. „Auf Wiedersehen!“ Erwin taumelte aus dem Zimmer. Es war gerade Pause, eine fröhliche Schar lärmender Schüler tobte auf dem Gang. Schüler, die die Schule besuchten, die die Matura schaffen werden. Erwin sah Christian nicht…

 

 

Dass sein Sohn einmal studieren sollte, das hatte Erwin schon in dem Augenblick beschlossen, als er Christian am Tag seiner Geburt im Spital in den Armen hielt. „Der Bub muss einmal Ingenieur werden!“, teilte er seiner Frau Erna mit. Sie lachte: „Du spinnst wohl!“ Doch Erwin war es ernst gewesen. Mit einer strengen, konsequenten Erziehung zum richtigen Beruf kann man nie früh genug beginnen.

 

Erwin bewunderte die Ingenieure, die in Anzügen mit Krawatte, vornehm, an ihren Tischen sitzen, für Normalsterbliche unverständliche Rechnungen durchführen und am Monatsende riesige Beträge auf ihrem Konto haben.

 

Erwin dachte an seinen eigenen Vater, einen Hilfsarbeiter, der mit 40 Jahren an Alkoholsucht gestorben war. An Samstagnachmittagen, bevor er sich betrank, hatte er mit Erwin immer Fußball gespielt. „Du sollst einmal Facharbeiter werden!“ schärfte er ihm ein.

 

Erwin lernte Zuckerbäcker, brachte es aber nie weiter als bis zum Gesellen. Deswegen besaß er keine Berechtigung ein eigenes Geschäft zu eröffnen. So war er seit 35 Jahren in der gleichen Großbäckerei angestellt und erzeugte täglich Hunderte von Punschkrapfen.

 

Er hasste dieses rosarote Gebäck, die Zuckerbäckerwerkstatt, den glutheißen Ofen, der im Sommer für eine Raumtemperatur von 60 Grad sorgte, die Hilfsarbeiter, die alle nur darauf warteten, dass der Chef seinen Blick abwendete um sofort eine Pause zu machen.

 

Nein, Christian sollte ein besseres Leben haben.

 

Erwins Traum von einem Ingenieurssohn wollte der verrückte Christian zerstören! Das konnte er nicht zulassen.

 

Erwin war so aufgeregt, dass er nicht mehr in die Arbeit gehen konnte. Zu Hause wartete er auf Christian und hoffte, dass ihn der Schlag nicht vor dem Eintreffen seines Sohnes treffen würde.

 

Um drei Uhr erschien Christian, wie immer, mit seiner schweren Schultasche. „Wie war es in der Schule?“, fragte Erwin mit zitternder Stimme. „Wie immer!“, antwortete der Sohn gelangweilt.

 

Erwin sprang auf und warf in seiner ohnmächtigen Wut die kostbare Porzellanvase aus Venedig nach Christian, traf ihn aber nicht und die Vase zerschellte nutzlos auf dem Boden.

 

 

 

Lügner! Schulschwänzer!“ brüllte Erwin.

 

Christian flüchtete aus dem Zimmer.

 

Erwin wurde es schwarz vor den Augen und er fiel auf das Sofa.

 

2

 

Unten saßen Erwin und seine Frau Erna in der Küche. Oben hockte Christian, ohne Abendessen, eingesperrt in seinem Zimmer. Erwin war außer sich, nicht einmal sein Lieblingsessen, das Kalbsschnitzel, konnte ihn trösten.

 

Christian muss die Matura schaffen, koste es was es wolle!“, wiederholte er immer wieder.

 

Er könnte eine Lehre machen!“, meinte Erna leise.

 

Eine Lehre! Niemals! Er wird die Matura machen, dafür sorge ich! Matura ist die tür nach oben!“

 

 

 

3

 

 

 

Nach einer Woche im Hausarrest versprach Christian sich zu bessern. Um sicher zu sein, dass er die Schule besuchte, begleitete ihn Erwin täglich bis zum Schultor. Hinter einem Baum versteckt, beobachtete er noch eine halbe Stunde das Schultor und ging erst dann beruhigt zur Arbeit.

 

 

 

Nach der Schule warteten schon mehrere Nachhilfelehrer auf Christian. Er durfte das Haus am Nachmittag nicht mehr verlassen. Seine Fußballschuhe wurden verbrannt, der Fernseher und der Computer wanderten verpackt in den Keller. Bei so viel Einsatz musste sich Christian in der Schule schlagartig verbessern, da war Erwin sicher.

 

 

 

Doch seine Hoffnungen dauerten nicht lange. Als er Christians Klassenvorstand einen Monat später anrief, um sich über die Lernfortschritte seines Sohnes zu erkundigen, erfuhr er, dass er jeden Tag nach der ersten Unterrichtsstunde aus der Schule verschwand.

 

 

 

Der wütende Erwin heuerte einen Detektiv an um seinen Sohn zu beobachten. Der Detektiv war teuer und berichtete Schlimmes: Christian verbringe seine Vormittage mit arbeitslosen Jugendlichen auf der Wiese beim Fußball.

 

Erwin stellte seinen Sohn zur Rede und hörte etwas Entsetzliches: „Ich hasse die Schule, ich will kein Ingenieur werden! Ich werde Fußballprofi!“

 

 

 

Erwin erlitt einen Nervenzusammenbruch und musste mehrere Wochen ins Spital. Doch das beeindruckte Christian wenig. Er fiel am Schuljahresende, wie erwartet, in allen Gegenständen, mit Ausnahme von Turnen, durch.

 

 

 

4

 

In schlaflosen Nächten reifte in Erwin ein genialer Plan heran. Er erzählte seiner Frau nichts davon. Sie hatte seine Visionen noch nie verstanden. Und sie würde es auch jetzt nicht tun. Denn für sie war ja auch ein Sohn, der bloß eine Lehre machte oder gar nur Hilfsarbeiter wurde, akzeptabel. „Hauptsache, er ist glücklich.“ Erwin wusste, dass er sein Vorhaben allein und ohne ihr Wissen und ihre Hilfe durchführen musste. Er ging vorsichtig an sein Projekt heran: Er fing an täglich kleinere Mengen von Baumaterial im Baumarkt zu kaufen.

 

 

5

 

Dann nahm Erwin einen längeren Urlaub und machte sich an die Arbeit. Da Erna den ganzen Tag im Supermarkt als Kassiererin arbeitete und Christian in einem Sommerlager war, störte ihn niemand bei seiner anstrengenden Tätigkeit. Er war ein geschickter Handwerker und arbeitete wie besessen am Ausbau des Kellers. Er plante einen kleinen Raum, den er mit Klo, Bad und einer Kochnische ausstattete. Hier, in diesem schalldichten Verlies hinter einer Stahltür mehrere Meter unter der Erde, würde Christian, abgeschnitten von den Verlockunhgen der Welt, umgeben von technischen Büchern, sich voll und ganz dem Lernen widmen und sich auf die Fernmatura vorbereiten können.

 

 

 

Erwin wusste aus der Zeitung, dass es auch andere Väter gab, die ihre Kinder einsperrten. Sie waren Monster, die niedrige, gemeine Motive hatten, während er aus reiner Liebe zu seinem Sohn handelte. Eines Tages würde ihm Christian für seine Strenge dankbar sein.

 

 

6

 

An einem sonnigen Nachmittag Anfang September saß Erwin mit Christian im Wohnzimmer. Das neue Schuljahr hatte an diesem Tag angefangen, doch Erwin wurde vom Detektiv verständigt, dass Christian überhaupt nicht hingegangen war.

 

Ich habe ihm die Chance gegeben, jetzt muss ich handeln!“ dachte Erwin.

 

Warst du heute in der Schule?“ fragte er beiläufig.

 

Papa, ich gehe nie wieder dorthin. Ich werde irgendwo als Hilfsarbeiter unterkommen und jeden Tag Fußball trainieren, um eines Tages Profi zu werden. Du kannst mich nicht zwingen, die HTL zu besuchen!“

 

Erwin lächelte ruhig. „Du bist fünfzehn und kannst natürlich entscheiden, was du werden willst. Trinken wir auf deine Karriere als Fußballer!“

 

Danke Papa, dass du mich verstehst!“, antwortete Christian und umarmte seinen Vater.

 

 

 

Erwin öffnete eine Flasche vom teueren Whisky und bot Christian ein Glas an: „Du bist jetzt ein Mann und darfst Alkohol trinken!“ Das farblose Schlafpulver hatte sich sofort aufgelöst. Christian merkte nichts und trank das Glas auf einmal aus.

 

Er muss öfters Alkohol getrunken haben!“, dachte Erwin.

 

Lieber Christian, wir müssen in aller Ruhe besprechen, was du machen solltest!“

 

Es ist nichts zu besprechen, Papa, mein Entschluss steht fest. Doch jetzt bin ich zu müde und muss etwas schlafen!“

 

Christian sank auf das Sofa und fiel in einen tiefen Schlaf. Erwin streichelte seinen Sohn zärtlich und trug ihn in den Keller. Dann schloss er die schwere Stahltür.